Meine Geschichte

Die Ehe meiner Eltern war schwierig, seit ich mich erinnern kann. Mein Vater war Choleriker und meine Mutter stürzte sich in die Arbeit und war oft auf Geschäftsreisen.
Ich war ein frühreifes und begabtes Kind. Mit 2 Jahren ging ich in die Ballettschule, mit 4 stand ich das erste Mal auf der Bühne der Oper.
In der Schule hatte ich 1er-Noten und wurde ein Jahr früher eingeschult. Ich war damals ein ziemlich arrogantes und freches Stück und nutzte die Streitigkeiten zwischen meinen Eltern zu meinem Vorteil aus.
Ich war allerdings so beliebt in der Schule, dass ich immer auf irgendwelchen Kindergeburtstagen oder Übernachtungspartys eingeladen war - wahrscheinlich meine Art, mit den Spannungen zuhause umzugehen. Meine Schwester wurde in der Zeit lungenkrank und wir verbrachten die Ferien daher oft bei meinen Grosseltern auf dem Land, was ein Zufluchtsort für uns war.


Eines Tages, ich hatte mir beim eislaufen das Steissbein verstaucht und musste im Bett liegen, kam meine Mutter mittags heim und packte unsere Sachen so schnell sie konnte in einen Koffer. Dann fuhren wir zum Kindergarten und holten meine Schwester unter dem Vorwand eines Zahnarztbesuches ab.
Wir fuhren zu meinen Grosseltern. Meine Mutter warf während der Fahrt immer wieder nervöse Blicke in den Rückspiegel und hielt kein einziges Mal an, nicht mal zum tanken. Von dem Tag an kehrten wir nie wieder zurück.
Ich sah meine Freunde nie mehr, konnte nicht mehr tanzen gehen und meinen Vater habe ich vor seinem Tod nur noch 2x gesehen: Einmal, als er uns besuchen kam, und am Scheidungstermin im Gericht.
Er verstarb einige Jahre später an Darmkrebs. Wir sind nicht zu seiner Beerdigung gegangen.
Damals ist viel passiert, das diese Entscheidung rechtfertigt. Mein Vater war Choleriker, ist regelmässig ausgerastet und hat mich und meine Mutter oft geschlagen. 


Wir lebten dann knapp ein halbes Jahr bei meinen Grosseltern, dann zogen wir in die Schweiz. Wieder musste ich meine neu gewonnenen Freunde hinter mir lassen. 
In der Schweiz fiel es meiner Schwester und mir schwer, uns zu integrieren. Vom beliebtesten Mädchen meines Alters wurde ich plötzlich zum Aussenseiter. Ich prügelte mich sogar für meine Schwester mit den Jungs, die sie wegen ihrem Hochdeutsch ärgerten.
Wir hatten nur noch uns zwei, was uns noch viel mehr zusammen 
schweißte. Meine Leistungen in der Schule sanken. Ich machte keine Hausaufgaben und lernte nicht, sondern verlor mich mit meiner Schwester in unserer eigenen, kleinen Welt.

Nach 2 Jahren, als uns die anderen Kinder endlich akzeptiert hatten, zogen wir erneut um. Ich war 11. 
Mein Vater hatte damals gedroht mich zu entführen, weswegen meine Mutter uns kaum aus dem Haus liess. Wir waren oft alleine. Als mein Vater starb, konnte meine Mutter ihr beschützendes Verhalten leider nicht einstellen und erlaubte mir meine ganze Teenager-Zeit hindurch nicht auszugehen. Sie suchte immer nach Gründen, mir Hausarrest zu erteilen oder mich zu kontrollieren - und das ist manchmal heute noch so!

An dem neuen Wohnort, wo ich heute noch wohne, traf ich auf einen weiteren Kulturschock: Die Mädchen waren sehr frühreif, keine interessierte sich für Tiere und Natur, so wie ich damals, und wieder waren wir Aussenseiter, wurden sogar gemobbt.
Meine Schwester wurde von den anderen Kinder so stark psychisch und physisch misshandelt, dass sie nicht mal mehr in die Schule gehen konnte. Kinder sind da manchmal wie Wölfe; sie sondern instinktiv das schwächste Mitglied der Herde aus ... 

Da meine Mutter soviel arbeitete, musste ich früh schon viele Aufgaben im Haushalt übernehmen.
Meine schulischen Leistungen wurden nicht besser und ich schaffte es nach der 6ten Klasse nicht aufs Gymnasium, obwohl ich mit Abstand die Beste in der Klasse war.
Damals fehlte ich auch zum ersten Mal in der Schule, weil ich genau wie meine Schwester stark gemobbt wurde. Ich ignorierte es jedoch, sagte niemandem etwas und ging einfach nicht in die Schule, wenn meine Mutter auf Geschäftsreise war.

Meine Schwester konnte ins Heiltherapeutische Reiten gehen, während ich in einen Vorbereitungskurs fürs Gymnasium geschickt wurde, der den ganzen Samstag ging. Die Kinder dort lachten über mich, weil ich mit dem Schulstoff so weit zurück lag - was aber nicht an mir, sondern an dem schlechten Niveau unserer Dorfschule lag. Ich bestand die Aufnahmeprüfung knapp nicht. 

Mit 14 war dann Schluss. Ich setzte mich zur Wehr und verliebte mich das erste Mal und ziemlich heftig in den Mädchenschwarm der Schule. Mit seiner Hilfe wurde ich beliebter und es gelang mir, mich für andere Schwache und Gemobbte einzusetzen.
Er gab mir damals den Halt, den ich brauchte, um endlich die Kurve zu kriegen.
Ich schaffte es ans Gymnasium.
Er und ich wurden nie ein offizielles Paar. Er schämte sich für mich in der Öffentlichkeit, die anderen Mädchen schmiedeten Intrigen gegen uns und ich war nicht bereit, mich von ihm vor seinen Freunden plump anbaggern zu lassen, damit er den Macho spielen konnten.
Wir 'trennten' uns im Streit, was mich sehr, sehr fertig machte, da er bisher der einzige Mensch gewesen war, der mir Halt geben konnte. Ich bin bis heute nicht über ihn hinweg.


Das erste Jahr am Gymnasium war die Hölle. Ich war nicht nur eine der Jüngsten in meiner Klasse, sondern weit mit dem Stoff zurück und kannte niemanden, weil ich die einzige aus meinem Dorf war, die es geschafft hatte.
Meine Klassenkameraden waren ziemlich arrogant und behandelten mich ein wenig von oben herab. Ich fühle mich total dämlich, dachte, ich sei nicht gut genug und begann, mich in mich selbst zurück zu ziehen und immer weniger zu essen. Meine alten Selbstzweifel kamen zurück, ich befürchtete hinter jedem Klassenkameraden einen Mobber, verschloss mich, machte mich unsichtbar, weil ich keinen Anlass geben wollte, wieder gemobbt zu werden.
Obwohl ich mich mit ein paar Leuten ganz gut verstand, war das Tanzen damals mein bester Freund und es ging mir nur gut, wenn ich tanzte. 


Meine Mutter rettete mich und schickte mich für ein halbes Jahr nach Frankreich auf eine internationale Sprachschule. Dort blühte ich auf! Ich war eine der Besten in meiner Klasse, schaffte das Delf B1 und traf fantastische Menschen. Meine Gastmutter bot mir einen geregelten Tagesablauf, so dass ich mich vollkommen auf meine Freundschaften und die Schule konzentrieren konnte. Ich war glücklich.
Als ich zurück kam, war ich wie verwandelt!

Doch mit jedem Monat, den ich hier verbrachte, ging es mir wieder schlechter. Die Mädchen in meiner neuen Klasse waren bei weitem nicht so toll, aufgeschlossen, witzig und tiefgründig wie damals auf der Sprachschule und ich fand nur oberflächliche Freundschaften. Aus Frust begann ich zu essen. Dennoch war ich eine der besten Schülerinnen in meiner Klasse und tanzte in der Jazz-Dance-Gruppe meiner Schule.
Ich lernte während meiner Zeit am Gymnasium ein paar Jungs kennen, doch sie waren durch die Bank weg Idioten, die mich jeder auf eine andere Art ausnutzen wollten oder betrogen. Sie sind es nicht einmal wert, dass ich hier von ihnen berichte.
Ich hatte wenig Freizeit, weil ich immer noch den Haushalt fast alleine schmiss, aber das machte mir nichts aus, weil ich trotz allem doch glücklich war. 


All dies zerbrach, als meine einzige enge Freundin von der Schule flog, weil ihre Noten nicht ausreichend waren. Meine Mutter und ihr Freund bekamen Beziehungsprobleme und die Stimmung zuhause wurde schlecht. Meine Mum begann auch, aus Frust zu fressen und wurde immer dicker. Ihre Stimmungsschwankungen lies sie an mir aus, was mich als Teenager ziemlich aus der Bahn warf.
Ich begann wieder in der Schule zu fehlen, zog mich in meine eigene Welt zurück, fügte mir selbst blaue Flecken zu und verkroch mich in meinem Zimmer.Ich war wieder am Boden, fühlte mich einsam und verlassen. Mittlerweile hatte ich 10 kg zugenommen, die ich nun durch hungern wieder loswerden wollte. Ich verlor mich in einem Teufelskreis aus hungern und fressen, lag Nächte lang wach und weinte und sehnte mich nach Zuwendung, Aufmerksamkeit und Liebe. Ich entwickelte eine Essstörung, wechselte zwischen starken Binge-Phasen und hungern hin und her und schluckte Abführmittel um das Völlegefühl loszuwerden...

Mein Körper machte das nicht lange mit. Immer öfter musste ich zum Arzt, weil ich ständig Kopfschmerzen und Schwindel hatte. Ich wurde auch mehrfach in der Schule ohnmächtig und bekam Asthmaanfälle. Einmal wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert, aber die Ärzte konnten nichts finden.

Meine Mutter unterstützte mich, soweit es ihr als allein-erziehende, voll-berufstätige Mutter und Karrierefrau mit Beziehungsproblemen und starkem Übergewicht möglich war (also fast gar nicht).
Aber sie wollte halt auch nicht daheim bleiben, denn sie ist wahnsinnig intelligent und talentiert und erfolgreich im Beruf. Der Beruf ist neben meiner Schwester und mir alles, was sie hat, und das wollte ich ihr nicht kaputt machen! Deshalb sagte ich ihr und meinen Freunden nichts und versteckte mich immer weiter hinter einem Netz aus Lügen.

Mein Klassenlehrer bemerkte schliesslich, wie sehr ich mich verändert hatte und schaltete unsere Schulpsychologin ein, bei der ich wöchentlich Sitzungen hatte. Mit ihrer Hilfe schaffte ich es bis zum Abi, welches ich mit guten Noten bestand.
Leider hatte ich den Anschluss in meiner Klasse verloren, weil ich mich so sehr isoliert hatte. Ich wurde zwar akzeptiert und manche Beziehung könnte man oberflächlich als Freundschaft bezeichnen, aber in Wahrheit war ich einsam - wären da nicht zwei liebe Mädchen aus anderen Klassen gewesen, die ich in der Theater AG kennen lernte und die mich einfach so akzeptierten, wie ich war, ohne zu urteilen.
Ich konnte mein letztes Schuljahr sogar ein bisschen geniessen, obwohl ich auch in diesem Jahr wieder einen Idioten kennen lernte, der ein falsches Spiel mit mir trieb. Gott sei Dank fand ich es früh genug heraus, ehe ich mich auf ihn einlassen konnte. So beendete ich meine Schulzeit als Jungfrau und ohne jemals eine richtige Beziehung geführt zu haben - aber das war mir egal, weil mich in meinem Leben andere Dinge beschäftigten. 


Während meinem ersten Jahr an der Uni ging es mir wieder schlechter. Die Beziehung meiner Mutter lag in vollkommenen Scherben und ihr ging es körperlich überhaupt nicht mehr gut. Ein Arzt entdeckte schliesslich endlich, woher ihre Beschwerden kamen: Sie hatte Nebennierendrüsenkrebs! 
Unser damaliger Hausarzt hatte ihre Symptome immer nur auf das Übergewicht abgeschoben, weshalb der Krebs nicht entdeckt wurde und nun schon in die Gebärmutter gestreut hatte.
Nun begann die lange Behandlung des Krebs, die ca. 1 Jahr dauerte. Der Tumor auf der Nebenniere war Gott sei Dank leicht operabel und die Gebärmutter musste nicht komplett entfernt werden.
Während dieser Zeit war ich als Tochter und grosse Schwester sehr gefordert.
Meine kleine Schwester hat eine leichte, geistige Behinderung die sich vorallem in einer starken Lernbehinderung und hypoaktiven ADS äussert. Es ist nicht immer ganz einfach mit ihr, weil sie doch geistig auf dem Niveau einer 12-jährigen bleibt, obwohl sie schon volljährig ist. 


Seit meine Mutter an Krebs behandelt wurde, hat sie wahnsinnig abgenommen. Zuerst natürlich durch die OP, dann dadurch, dass der Tumor entfernt wurde und die Nebenniere kein Cortisol (Stresshormon) mehr produziert als würde es kein Morgen geben ... sie wurde ruhiger, weniger cholerisch und hatte keine Heisshungerattacken mehr
Die Grösse der Mahlzeiten nach der OP behielt meine Mum ein ganzes Jahr lang bei und wiegt nun weniger als ich - was mich natürlich irgendwie fertig macht. Vorallem, weil sie es mir täglich auf die Nase bindet, mir alte Klamotten von sich gibt mit dem Spruch "ist mir zu gross. du passt da sicher rein" und jedesmal meine neue Klamotten auch anprobieren muss, wenn ich mir was kaufe, nur um mir zu zeigen, dass es an ihr viel besser sitzt! Insgesamt nahm sie fast 60 kg ab.

Am 8. August 2013 kam ich dann mit meinem Freund zusammen. Ich kenne ihn schon seit 3 Jahren und - wie könnte es bei mir anders sein - unsere Freundschaft hatte auch ihre Höhen und Tiefen, aber mittlerweile sind wir glücklich zusammen und er ist eine der wenigen Konstanten in meinem Leben, die mir Halt geben.
Nach den ersten paar Wochen begann aber mein Kopf wieder verrückt zu spielen.
Ich verglich mich mit seinen Ex-Freundinnen, weil ich verunsichert war, da ich vor ihm mit niemandem zusammen gewesen war.
Kurzzeitig fühle ich mich auch schön und begehrenswert, weil er der erste ist, der mir das Gefühl gibt, gewollt und geliebt zu werden. Die meiste Zeit jedoch fühle ich mich hässlich und dick - auch weil mein Freund bei einer Körpergrösse von 1.80 m gerade mal 69 kg auf die Waage bringt und auch sehr sportlich ist!

Mein Gewicht beschäftigt mich also immer noch.
Es hilft mir, wenigstens einen Teil meines Lebens (Essen, Gewicht) zu kontrollieren, auch wenn es mir immer wieder entgleist und mich manchmal in die Verzweiflung treibt!
Auch fällt es mir nach wie vor schwer, andere Menschen in mein Leben hinein zu lassen und ich verschliesse mich oft, aber ich kann daran arbeiten und weiss, dass ich es schaffen werde, wieder glücklich und unbefangen durch's Leben zu gehen.

Ich musste in meinem Leben immer wieder mit Niederlagen, Enttäuschungen und Arschlöchern kämpfen, die meine Schwäche ausnutzen wollten.
Trotzdem habe ich es geschafft, einen grossen Bogen um Alkohol und Drogen zu machen, obwohl das in unserem Dorf sehr populär ist. 

Ich wurde kein Partytier, habe mich immer um meine Familie gekümmert, ein gutes Abi gemacht und studiere Jura an der Uni. 
Das sind Dinge, auf die ich stolz bin und die mir keiner nehmen kann.
Die Erfahrungen, die ich in Frankreich gemacht habe, haben mir allerdings gezeigt, dass ich wirklich unbedingt während meines Studium in's Ausland gehen will!
Für dieses Ziel lebe und lerne ich.

Aber im Moment fühle ich mich wieder ganz klein und einsam und als ob mich niemand versteht.
Ich habe Familienprobleme, weil meine Mama und ich uns wieder gar nicht verstehen, seit ich mit meinem Freund zusammen bin und sie ihre Beziehung einfach nicht auf die Reihe kriegt. Ausserdem stehen meine Noten momentan nicht so gut, weshalb meine Zukunftsträume ziemlich auf der Kippe stehen. 

Durch diesen ganzen Frust und Stress habe ich wieder wie automatisch angefangen weniger zu essen und ganze Mahlzeiten ausfallen zu lassen. Ich hoffe, dass es mich nicht wieder in einen Teufelskreis zieht!



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